Geschichtsphilosophische Aufladungen
Dass das Aufhören quantitativ, das heißt in der Häufigkeit seines Vorkommens unterschätzt wird, hat nun eine bestimmte Relevanz für die Theorie der Praxis als ganze, indem es nämlich darauf hinweist, dass — wenn denn schon der methodologische Individualismus ein Übel ist — das Aufhören neben dem Beharren und der Transformation eine reale Option ist, die eine Praxis selbst hat, ohne dass die Aktoren oder Subjekte etwas dafür tun müssten oder dagegen tun könnten. Mit anderen Worten: Dass eine Praxis in der Sphäre der selbstverständlichen Routine verbleibt oder aber sich im Wechselspiel zwischen Struktur und Subjekt kritisch-reflexiv transformiert, mag also zwar sein. Es kann aber auch ein Ende mit ihr nehmen — und meistens kann man das vorher nicht erkennen. Für eine bislang routiniert vollzogene soziale Praxis — und das wäre das nunmehr zweite epistemische Problem, das mit dem Aufhören verbunden ist — lassen sich die Bedingungen ihres Aufhörens nur als Konstruktionen aus dem Reservoir der futura contingentia angeben; eine belastbare Prognose ist also im Allgemeinen nicht möglich. Hieran ändert sich grundsätzlich nichts dadurch, dass sich die Aktoren oder Subjekte auf die eine oder andere Weise zu ihrer eigenen Praxis verhalten. Weder das ängstliche Konservieren noch das gelehrige Modernisieren einer Praxis stellt sicher, dass sie fortbesteht. Wollte man die Verabschiedung des methodologischen Individualismus in der Praxisphilosophie ein wenig karikieren, könnte man sogar behaupten, es sei schließlich die Praxis selbst, die darüber entscheide, ob sie fortbestehe oder nicht lieber ende.
Aber mit einer solchen Kontingenzfeststellung wäre theoretisch noch sehr wenig erreicht. Zu überlegen wäre, ob und inwiefern die bloße Möglichkeit des Endes die Organisationsmuster von Praktiken und das Verhalten der involvierten empirischen Subjekte sichtbar prägt — oder ob im Gegenteil eine wohlgeordnete Praxis sich durch ein effektives Vergessenmachen jeglicher Fluchtweg und jeglichen Aufhörens auszeichnet. Vielleicht kann man sagen, dass die Perspektive auf die Konstitution und das Beharren einer Praxis die primäre Perspektive der Praxisphilosophie gewesen ist. Diese Perspektive ist buchstäblich konservativ, und sofern man sich auf sie beschränkt, wird es schwierig, Veränderung von Praxen überhaupt zu erklären. Um nun einen Rückgriff auf ein starkes Subjekt zu vermeiden, das als Deus ex machina in die Praxen eingreift und sie reformiert, denkt man sich Transformationsprozesse in der einen oder anderen Weise als Reaktionen eines Systems auf Störungen, die entweder aus der Umwelt oder auch aus der Wechselwirkung von System und Umwelt hervorgehen. Das Subjekt wird dann zwar zurück-gestuft, aber es taucht, solange von Praxis die Rede ist, empirisch zumindest noch als Sand oder Öl im Getriebe der Welt auf. Und das Knirschen wäre dann, um im Bilde zu bleiben, das Geräusch, das durch den Prozess der kritischen Reflexion entsteht. Wenn aber die Idee eines solchen Transformationsprozesses (in dem seitens der Theorie einstweilen enthauptete Entitäten wie das souveräne Subjekt gleichsam als schwach gewordene Angestellte wieder auftauchen und an der Zukunftsfähigkeit einer Praxis arbeiten) die Antwort auf den konservativen Monismus der Stabilisierungs- und Beharrungsphänomene sein soll, muss überlegt werden, ob es sich hier nicht einfach nur um zwei unterschiedliche Fallen des geschichtsphilosophischen Denkens handelt: dort die Idee, dass die Praxis deshalb beharrt, weil sie eine Substanz gleich welcher Art (eine anthropologische Funktion, ein ursprüngliches oder erarbeitetes implizites Wissen) widerspiegelt, hier die Idee eines Fortschritts — dass unaufhörlich Neues entsteht, um etwas Früheres zu überwinden. Eine Heiligung der kritischen Dauerreflexion ist nur im Lichte dieser zweiten geschichtsphilosophischen Idee möglich, genauso wie die melancholische Vorstellung, dass alles, was nicht mehr im Zustand vorreflexiver Selbst-verständlichkeit verharrt, schon so gut wie untergegangen ist, nur im Lichte jener ersten geschichtsphilosophischen Idee irgendeine Plausibilität hat. Merkwürdigerweise steht die Idee, dass eine Praxis beginnen, beharren und sodann aufhören könnte, ohne dass dieses Aufhören eine über es selbst hinausreichende Bedeutung hätte, zu beiden geschichts-philosophischen Versionen, sowohl zur konservativen Melancholie als auch zum Fortschrittsdenken, im Gegensatz. Aus melancholischer Sicht darf eine etablierte Praxis deshalb nicht aufhören, weil mit ihrem Ende das Sinngewebe der Welt zerreißen würde — der einmal hergestellte Bezug ist unersetzlich. Aus progressiver Sicht darf aber eine Praxis ebenfalls nicht aufhören, sofern sie nicht immer schon falsch gewesen ist. Die Wahrheit des Fortschrittsgesetzes erweist sich nämlich nur im kontinuierlichen Vollzug des Überwindens, also darin, dass etwas vorher Richtiges durch etwas Richtigeres abgelöst wird. Deshalb und nur deshalb ist die kritische Reflexion der Praxis für ein progressives Denken die universale Lösung aller Probleme, die man mit so etwas wie Praxis haben könnte. Die kritische Reflexion liefert nämlich per definitionem (durch ihre beiden Begriffsbestandteile: unterscheiden und zurückbeugen) jenes Differential, jenen kleinen Unterschied zwischen dem Besseren und dem Bisherigen, der dafür sorgt, dass der Fortschritt prozessiert, ohne abzureißen, sei es auch durch eine Dialektik der kleinen Verneinung und der kleinen Weigerung.
Beide geschichtsphilosophischen Modelle er-scheinen übrigens genauso lange plausibel, wie das Aufhören nicht real eintritt und daher seine Möglichkeit entweder verdrängt oder als Zusammenbruch der Kultur respektive Rückfall in die Barbarei perhorresziert werden kann. Andernfalls wird deutlich, dass weder das Sinngewebe als Ganzes zerreißt noch die kritische Reflexion als solche das Ende einer Praxis abzuwenden vermag. Selbst die sorgsam reflektierte Praxis kann immer noch zerredet werden. Eine Philosophie der Praxis müsste an dieser Stelle womöglich eine Lanze für die Banalität des Aufhörens (und des Anfangens) brechen, weil sie eben keine Philosophie der Geschichte ist und deshalb auch nicht Partei für eine der klassischen geschichtsphilosophischen Optionen ergreifen muss. Die Beobachtung dessen, was mit den Praktiken geschieht, führt, solange sie (falls möglich) interesselos ist, im ersten Anlauf nur auf historische Episoden, also auf länger aus-gedehnte Begebenheiten, die zwar mit anderen Begebenheiten in einem Zusammenhang stehen, aber deshalb noch nicht objektiv traurig oder verheißungsvoll sind. Geschichtsphilosophie im obigen Sinne war die Manie, sich aus diesen Begebenheiten Sequenzen herauszusuchen, die entweder melancholisch oder zuversichtlich stimmen. So dürfte eine Philosophie der Praxis also nicht vor- gehen — zumindest nicht, solange sie nicht für ein Erziehungsministerium arbeitet (das ja jeweils ein Zuversichtsministerium ist). Vielmehr ginge es darum, auf einer mittleren Ebene (unterhalb des Geschichtsprozesses und oberhalb der Befindlichkeiten von Aktoren) darzulegen, wie es denn kam, dass diese oder jene Praxis, die so lange erfolgreich war und so viel kritische Reflexion erlebt hatte, schließlich doch eingestellt wurde, und wie es kam, dass jene andere, die mit so viel Begeisterung begonnen worden war, so früh und so eklatant scheiterte. Das Gelingen bis jetzt, das immer für Praktiken gilt, die wir noch in actu beobachten können, verzerrt nämlich den Blick auf das Wie des Funktionierens und die Unwägbarkeiten der Selbstorganisation. Die Theorie der Praxis muss sich das Scheitern der Praxis vor Augen führen; das hilft beim Verstehen, selbst wenn prognostisch erschütternd wenig daraus zu lernen ist.
Eschatological Loads
The fact that cessation is quantitatively under-estimated, i. e. in the frequency of its occurrence, now has a certain relevance for the Theory of Praxis as a whole, in that it points out that — if really methodological individualism is an Evil — cessation, alongside perseverance and transformation, is the real option which a praxis itself has, without the actors or subjects having to do or being able to do anything against it. In other words, the fact that a praxis remains in the sphere of self-evident routine or is critically and reflexively transformed in the interplay between structure and subject, may therefore be true. But it can also come to an end — and most times one can't foresee it. For a social praxis which has been routinely carried out — and this would be the second epistemic problem associated with cessation — the conditions of its cessation can be indicated only as constructions from the reservoir of the futura contingentia; a resilient prognosis is then in general not possible. In principle, this is not changed by the fact that the actors or subjects behave in one way or another towards their own practice. Neither the anxious conservation nor the docile modernisation of a praxis ensures that it will continue. If one were to parody the dismissal of methodological individualism within Philosophy of Praxis, one could even claim that it is a praxis itself who decides whether it continues to exist or not, and chooses to end.
But theoretically very little would be achieved with such a diagnosis of contingency. It must be considered whether, and to what extent, the mere possibility of an end evidently shapes the organisational models of the praxes and behaviour of the empirical subjects involved — or whether, on the contrary, a well-ordered praxis is characterised by an effective forgetting of every exit option and every cessation. Perhaps it can be said that the perspective on the constitution and the insistence of a praxis has been the Philosophy of Praxis’ primordial perspective. This perspective is literally conservative, and if one is restricted to it, it be-comes difficult to explain change in praxes at all. Now, in order to avoid recourse to a strong subject which intervenes in the praxes as Deus ex machina reforming them, one thinks of transformation processes in either way as reactions of a system to disturbances which arise either from the environment, or from the interaction of system and environment. The subject is then degraded, but as long as we are talking about praxis, it emerges at least empirically as sand or oil in the engines of the world. And the grinding, in order to remain in the picture, would then be the noise that arises from the process of critical reflection. But if the idea of such a transformation process (in which entities decapitated by theory, such as the sovereign subject, reappear as weakened employees working on the sustainability of a praxis) is to be the answer to the conservative monism of the phenomena of stabilisation and perseverance, it must be considered whether these are not just two different traps of eschatological thinking: on one hand there is the idea that a praxis persists because it reflects a substance of any kind (an anthropological function, an original or acquired implicit knowledge), and on the other hand the idea of progress — that something new is incessantly being created in order to overcome something older. A sanctification of a permanent critical reflection is only possible in the light of this second eschatological idea, exactly like the melancholic notion that everything which no longer remains in a state of pre-reflective self-evidence is as good as it is gone, has any plausibility only in the light of that first eschatological idea. Strangely enough, the idea that a praxis could begin, persist, then stop and cease to exist without this ceasing having a meaning beyond itself, stands in contrast to both eschatological versions, both conservative melancholy and progressive thinking. From the melancholic point of view an established praxis must not cease because its end would tear apart the web of meaning of the world — a meaning once established is irreplaceable. From the progressive point of view, however, a praxis must not cease unless it has always been wrong. For, the truth of the law of progress can only be seen in the continuous execution of overcoming, i. e., in the fact that something right before is replaced by something even more right. Therefore and only for this reason, the critical reflection of praxis for progressive thinking is the universal solution to all the problems one could have with something like praxis. Critical reflection, by definition (through its two conceptual components: differentiation and refraction), provides that differential, that small difference between the better and the previous, which ensures that progress processes without breaking off, even if only through a dialectic of small negations and small refusals.
Both eschatological models appear so far plausible, inasmuch as the cessation does not actually occur and therefore its potentiality can either be repressed or perhorresced as a decline of culture or a relapse into barbarism. Otherwise it becomes clear that neither the web of meaning as a whole tears apart, nor critical reflection as such can avert the end of a praxis. Even a carefully reflected praxis can still be talked into pieces. At this point, a Philosophy of Praxis would have to take up the arms for the banality of cessation (and of beginning), because it is not a philosophy of History and therefore doesn’t have to take sides in one of the classical options of eschatology. The observation of what happen with the praxes, as long as it is (if possible) dis-interested, leads in a first attempt only to historical episodes, i. e., to longer extended events which, although connected with other events, are not yet objectively sad or promising. Eschatology, in the above sense, was the mania of selecting sequences from these events which make one become either melancholic or confident. A Philosophy of Praxis should, therefore, not proceed in this way — at least not as long as it does not work for a Ministry of Education (which is in any case a Ministry of Confidence). Rather, it would be a matter of presenting on a mid-level (below the historical process and above the sensitivities of actors), how it came that this or that practice that had been successful for so long and had experienced so much critical reflection was finally discontinued after all, and how it came that the other one who had been started with so much enthusiasm, so early and so blatantly failed. So far, the success that always applies to praxes, which we can still observe in actu, distorts the view of the how of functioning and the imponderables of self-organisation. The Theory of Praxis has to bear in mind the Failure of Praxis; which helps to understand, even if prognostically there is shockingly so little to learn from.