Heuristik des Aufhörens
Zu den interessantesten Erfahrungen, die Menschen beim Betrachten und Beforschen der materiellen Zeugnisse vergangener Kulturen machen können, gehört die, dass sie unverständlich bleiben, weil der Bedeutungshorizont, dessen Ausdruck diese Zeugnisse sind, als ganzer untergegangen ist. Vielleicht war das Objekt ein alltäglicher Gebrauchsgegenstand, vielleicht hatte es aber auch einen kultischen Sinn. Darüber lässt sich dann unter Umständen nur rätseln.
Diese Erfahrung, die ja zunächst nur eine Erfahrung misslingender Hermeneutik und unzureichenden Wissens ist, könnte uns daran erinnern, dass kulturelle und soziale Praktiken aufhören und in Vergessenheit geraten können. Natürlich kann das auf verschiedene Weise geschehen. Etwas könnte zum Beispiel aufgehört haben, weil es durch äußeren Zwang gegen den Willen der Aktoren (der Träger der Praxis) beendet wurde. Die Kultstätten wurden zerstört, die Priester ermordet, das Parlament abgeschafft oder die Lager aufgelöst, das Hütchenspiel ein für allemal verboten — die Beispiele sind vielfältig. Nach der Stunde Null erscheint die vergangene Praxis wie ein Spuk, an dessen Stelle eine andere Ordnung mit anderen Praktiken tritt.
In weniger dramatischen Fällen könnte eine Praxis ihre Funktionen, ihre ökonomische Basis, ihre sozialen Rechtfertigungen allmählich verlieren. Sie wird dann als überkommen, das heißt als nur-noch-überliefert, als veraltet, als Praxis der Älteren, als früher ewig, jetzt aber ewig-gestrig, eben als obsolet wahrgenommen. Etwas hatte seine Zeit, aber jetzt ist es doch sinnlos geworden. Das Absterben der alten Praxis erfolgt in diesem Fall aber nicht plötzlich, sondern allmählich. Dem entspricht es, dass Verzerrung und Schwinden der Erinnerung von Generation zu Generation in Stufen erfolgt. Die frühere Praxis ist zumindest noch eine nostalgische Abbildung wert, und irgendwo steht geschrieben, wenn auch oft falsch, wie es damals wirklich gewesen sei.
Auch könnte eine Praxis gleichsam unbemerkt und unkommentiert untergehen, indem sie bis zur Unkenntlichkeit reformiert und transformiert wird. In diesem Fall kommt es gar nicht zu einer historischen Reflexion des Verschwindens als eines Verschwindens, sondern das Ende stellt sich für einen späteren Beobachter als das Umschlagen einer Quantität der Transformation in die Qualität des Verschwundenseins dar.
Um der Suggestion der bisher angedeuteten politisch-geschichtlichen Beispiele zu entkommen, sollte man sich vergegenwärtigen, dass sich Beispiele der in dieser provisorischen Klassifikation beschriebenen Finalprozesse überall würden finden lassen, wo man mit Recht von sozialen Praktiken sprechen kann, nicht zuletzt in der eigenen Biographie, wo Alltagsroutinen, die mit der früheren raumzeitlichen Lebenssituation, der früheren Wohnung, der früheren Tätigkeit etc. verknüpft waren, im Nachhinein rätselhaft erscheinen oder sogar einer fast völligen Amnesie anheimfallen können — gerade weil sie elementare leibliche Routinen waren, die zwar den Alltag strukturiert haben, aber an eine bestimmte und jetzt vergangene Umgebung gebunden waren.
Ist das Verschwinden einer Praxis eine Erlösung? Oder ein kultureller Verlust, der plötzlich jemanden nostalgisch oder melancholisch stimmt — etwa weil eine handwerkliche Praxis von einer industriellen verdrängt wird und damit auch die Spezifik des materiellen Produkts unwiederbringlich dahin ist? Natürlich sind die Konnotationen unterschiedlich. Sicher scheint aber, dass das Phänomen als solches — zunächst quantitativ, dann auch qualitativ — unterschätzt wird. Auf triviale Weise ist die Praxis, die aufgehört hat, abgebrochen worden ist, gescheitert ist, oftmals (allerdings nicht immer) epistemisch gegenüber derjenigen im Nachteil, die beharrt und allen selbstverständlich ist; erst recht aber gegenüber derjenigen, die unablässig reflektiert, kritisiert und modernisiert wird. Der epistemische Nachteil besteht darin, dass jene verschwundene Praxis nicht oder nicht mehr richtig gesehen wird, weil es nichts mehr zu sehen gibt oder eben nur noch Gegenstände, die in einem nicht mehr zuverlässig bestimmbaren Verhältnis zur Praxis gestanden haben. Infolgedessen ist auch das Verschwinden als Vorgang oder Ereignis nicht oder nur eingeschränkt erinnerlich. Wahrscheinlich haben wir selbst mit mehr aufgehört, als wir wissen. Scham und Verdrängung mögen mitunter eine Rolle spielen, aber im Hauptfeld, das heißt in den meisten Spielarten des Phänomens, ist der individuelle Affekt eher blass, weil die Verdrängung eine objektive war: Eine opportune Praxis hat sich vor eine frühere, nicht mehr opportune geschoben.
Heuristics of Cessation
One of the most interesting experiences that people can have when looking at and exploring material evidence from past cultures is that they remain incomprehensible, because the horizon of meaning these testimonial evidences express was lost with their original context. Maybe an object was an ordinary commodity, or perhaps it had a cultic sense as well. In any case one might be just guessing.
This experience, which is at first just an experience of failing hermeneutics and insufficient knowledge, could remind us that cultural and social praxes can cease to exist and fall into oblivion. This of course, can happen in different ways. For instance, something could have stopped because it was interrupted by external coercion pressing against the will of the actors (the bearers of the practice): the shrines of the cult were destroyed and the priests were all slaughtered, the parliament was abolished and the camps were dissolved, or the tournaments were once-and-for-all forbidden — there are a manifold of examples. After the Stunde Null, a former praxis appears like an afterlife-spectrum which has been replaced with a different order by other praxes.
In less dramatic cases, a praxis could gradually lose its functions, its economic basis and/or its social justification, and then be perceived as overcome, which only means passed on as démodé. Like a praxis of an earlier generation which was once seen as perennial, is now disregarded as old-fashioned, or simply obsolete. A praxis which had its moment, but then turned pointless. An old praxis, in this case, doesn’t just die suddenly but gradually. Seemingly, distortion of memory shrinks in phases, during the transition of one generation onto another. An earlier praxis is also worth a nostalgic image, while somewhere is written, often incorrectly, how it truly was.
Also, a praxis could vanish unnoticed and unremarked while it is reformed and transformed beyond recognition. In that case, there won’t be a historical reflection of its vanishing as a dis-appearance, but its end presents itself to a later observer as the metamorphosis of a quantity of transformation into the quality of disappearance.
In order to escape the suggestion of the political-historical examples so far suggested, it should be borne in mind that examples of the final processes described in this provisional classification would be found everywhere. There, where one can rightly speak of social praxes, and not least, in one's own biography, where daily routines which were linked to previous spatiotemporal living conditions (a former flat, an old habit, etc.), may in retrospective seem puzzling or even fall into an almost complete amnesia — precisely because they were basic bodily routines, which while structuring quotidianity, were bound to a particular, now past environment.
Is the vanishing of a praxis, a salvation? Or on the contrary, is it a cultural loss which suddenly makes someone nostalgic or melancholic — because for instance, a handcraft tradition was displaced by an industrial technology therefore the specific nature of the material products is irretrievably gone? Of course, the connotations are diverse. It certainly seems, however, that this phenomenon as such — initially quantitative, then qualitative — is under-estimated. Trivially, a praxis which has stopped, has been canceled, which has failed, often (but not always) is at a disadvantage in epistemic terms against those praxes which persist and are self-evident; but especially against those which are incessantly reflected, criticised and modernised. The epistemic disadvantage is that those vanished praxes are not, or no longer properly seen, because there is nothing more to be seen than just objects, which relationship to their former praxis is no longer discernible. As result, the vanishing as a process or event can only be partially recalled, or even not-at-all. We've probably stopped more praxes than what we are aware of. Shame and repression may eventually play a role in this amnesia, but in the main field, that is, in most varieties of this phenomenon, individual affect is rather pale, because the repression is an objective one: an opportune praxis has emerged in front of an earlier, no longer proper one.
Dr. Norbert Axel Richter
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